Donnerstag, 31. Mai 2018

Die Stadt & die Stadt von China Miéville

"We need fantasy to think the world, and to change it."
"Wir benötigen Phantasie, um die Welt zu denken, und zu ändern."
Marxism and Fantasy: An Introduction China Miéville

Ein Krimi? Ein phantastischer Roman? Eine Parabel? Der Autor hat mal gesagt, er will sich durch alle Genres schreiben.
Es gibt eine Tote, einen Kommissar, die Polizei, Verdächtige und Ermittlungen und Verfolgungsjagden, ganz wie es sich in einem Kriminalroman gehört. 
Irgendwo auf dem Balkan, zwei Städte, Besźel & Ul Qoma, oder eine geteilte Stadt? Sie existieren nebeneinander und ineinander. Die Kinder beider Seiten lernen früh, den anderen Teil und seine Bewohner nicht zu sehen. Im Englischen klingt das besser: to unsee, sie ungesehen machen. Sie laufen nebeneinander ohne sich wahrzunehmen. Sie blenden die Hälfte der Wirklichkeit aus.
Ein bisschen ist das wie ehemals in Ost-Berlin, der Westen war allüberall und doch nicht wirklich da. Als bei meiner Aufnahme in die FDJ an der Mauer plötzlich Flugblätter über dieselbe flogen, kamen sie wie aus dem Nichts. Unter meiner Kindheitsstrasse, der Friedrichstrasse, spürte man das Beben unsichtbarer, nicht bekannter U-Bahnen, der dortige S-Bahnhof hatte hinter einer undurchdringlichen Trennwand einen weiteren Bahnsteig. Straßen hörten urplötzlich auf. Und einmal hörte ich, wie eine West-Berliner Besucherin vor dem Tränenpalast ihrer Begleiterin zurief: " Bei uns hat nicht so geregnet." 
Ja, wir wurden kollektiv darauf gedrillt den westlichen Nachbarn unzusehen.

 China Miéville © Katie Cook

Zurück zum Roman - Wer die unsichtbare Grenze "überschreitet", durch falsch gucken oder gar körperlichen Grenzübergang, wird von the Breach gepackt und verschwindet. The breach = der Bruch, die Einbruchstelle, die Verfehlung, die Rechtsverletzung.
Das Tolle ist, dass der Schreiber der beunruhigenden Metaebene nie erlaubt, aufdringlich zu werden. Diese kafkaeske Welt wird beschrieben als Alltag, unangezweifelt und gewohnt. Und wie es ein anderer Leser beschreibt: "Das Geheimnisvolle darf geheimnisvoll bleiben." Am Ende, wenn der ernsthafte "Held" gegen Ende eine Verfehlung begeht, erschrickt es ihn so sehr wie mich.
Das BBC hat den Roman gerade verfilmt. Will ich sehen.
 
http://buchwurm.org/mie9ville-china-die-stadt-die-stadt-18010/

Montag, 28. Mai 2018

Nellys warmer Kartoffel-Spargel-Salat

Ein warmer Sommersalat, dem meine Lieblingsnichte erfunden hat, und der überaus einfach zuzubereiten ist und noch überaußer lecker schmeckt. Nelly ist ein unangestrengter Koch, da bin ich noch lange nicht. Und sie experimentiert gern. Wenn wir auf dem Lande zusammen kochen, verschwindet sie gelegentlich im Garten und bringt Kräuter und Blumen zum Würzen mit. Und sie ist eine großzügige Lehrerin. Gut für mich.

DIE ZUTATEN
Kartoffeln
Grüner Spargel
Tomaten
Hühner- oder Gemüsebrühe nach Gusto
Sahne oder 'Creme Fine zum Kochen'
Zitrone
Knoblauch, Salz, Pfeffer, Zucker, Curry und andere Gewürze nach Belieben

Die Mengen der Gemüse sollten etwa gleichgroß sein.

DIE ZUBEREITUNG
dauert etwa 25 Minuten.
Kartoffeln in kleinere Würfel schneiden und kochen wie üblich. Wenn das Wasser sprudelt Brühe, Salz, Knoblauchsalz, Pfeffer und was immer ihr mögt dazu, auf mittlerer Hitze weiterkochen lassen, bis sie fertig, aber noch bißfest sind.
Grünen Spargel in 1 cm Stücke schneiden und in einer Pfanne mit wenig Fett anbraten, salzen und einen Löffel Zucker zum karamelisieren dazu. Die Spitzen erst etwas später dazugeben.
Die Tomaten würfeln, den gebratenen Spargel drüber und zwei kleine Kellen des Kartoffelwassers dazu. Das restliche Kartoffekochwasser abgießen und die Kartoffeln in die Schüssel mit den anderen Zutaten kippen.
Creme Fine und Zitronensaft in "kreisförmiger Bewegung" in die Schüssel, das ganze vermischen und sogleich, noch lauwarm essen. Einen Löffel für die Sauce nicht vergessen!

Sonntag, 27. Mai 2018

Eine Glänzende, Glitzernde Demonstration

Wegen euch Arschmaden habe ich keinen freien Sonntag

Lange nicht mehr auf einer Demo gewesen. Die heute war gut. Die Kundgebung hab ich mir gespart, aber drei Stunden durch Berlin zu laufen, um die Anwesenheit von Widerspruch deutlich zu machen, ist nützlich verbrachte Zeit.

Wenn die Zahlen, die die Polizei geschätzt hat, stimmen, waren 5000 (fünftausend) Mitglieder und Unterstützer der AfD gekommen, um ihre politische Haltung zu vertreten, und im Gegenzug liefen, latschten, tanzten 25 000 (fünfundzwanzigtausend) Leute verschiedenster Couleur und Color, um deutlich zu machen, dass sie gänzlich anderer Meinung sind.

Ich war in der Menschenmenge mit den güldenen Fahnen. Viele Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene, zu wenige aus meiner Altersgruppe. Warum? Zu faul? Zu träge? Zu müde? Bei der anderen Gruppe?

Manche meiner Mitläufer (hihihi) kamen direkt vom Feiern, andere hatten sich großartigst verkleidet. Es gab dekorierte Kinderwagen die Menge, kleine Engel, Einhörner, goldene Turbane, Pailtetten, Strass und viele glitzernde Schutzdecken als Hut, Rock, Schleife, Sonnenschirm, Augenbinde und Büstenhalter. Es wurde wenig geschrien und viel in der Sonne gelacht. Klar waren auch einige Menschen auf der Suche nach Randale dabei, aber nicht wirklich viele.

Seitlich liefen die Sammler von Pfandflaschen, auch die zufällig an der Strecke liegenden Kioske und Eisdielen haben gut Geschäft gemacht.

WIR SIND VIELE - JEDE*R EINZELNE VON UNS

Laufen ist gesund, nette Gesellschaft hatte ich, die Sonne hat geschienen. Und zumindest heute waren wir, so verschieden wir über Vieles denken mögen, doch weit mehr, als die anderen mit ihren einfachen, bösen Lösungen.

P.S. Könnten wir aufhören "Nazis raus!" zu skandieren, bitte? Wo raus, wo rein? Quatsch, leere Hülse, Dummzeug. 

P.P.S. Ich werde gerade von Bekannten darauf hingewiesen, dass meine Freude fehl am Platz ist, da eine solche Demo nur von den wirklichen Problemen, die unser Land hat, ablenkt. Tja.


Nur von hinten wegen der neuen Datenschutzbestimmungen

Mittwoch, 23. Mai 2018

Luchino Visconti - Die Verdammten oder Die Götterdämmerung

https://www.tagesspiegel.de/kultur/retrospektive-der-grosse-melancholiker-luchino-visconti-in-einer-berliner-retrospektive-/8392106.html

Ich sehe grauenhaftes, morbides, dekadentes, doch erschütternd schönes Verlöschen, während unbemerkt, ohne eines Momentes des Interesses wert zu sein, Millionen Menschen unbetrauert verrecken.
Schauspieler in ihrer ersten atemraubenden Blüte. Buchholz, Griem, Berger.
Visconti, der Sohn einer adligen italienischen Familie mit hunderten Jahren von Reichtum, Macht und Geschichte auf dem Buckel, versuchte, den Untergang seiner Art zu verfilmen. Das schaut sich an wie ein tragisches biologisches Experiment. Entschlossen kalt und verzweifelt zugleich.
Alle Akteure sind dem Untergang verfallen und reißen dabei Völker mit in den Abgrund, und es spielt keine Rolle für sie.

 ©dpa
http://www.news.de/promis/855534670/helmut-berger-helmut-berger-der-skandal-schauspieler-feiert-seinen-70-geburtstag/1/ 

Nur Aschenbach/Griem, ein Mann ohne Bindungen, ist agil, lebendig, ohne Skrupel, lebensfähig.
"Auf die Knie!"
Edgar Allen Poes "Der Untergang des Hauses Usher" bietet sich an zur begleitenden 
Lektüre.

http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-untergang-des-hauses-usher-7205/2

Dienstag, 22. Mai 2018

Facebook ist ein eigen Ding

Facebook, bzw. mein persönliches Facebook. 
Ohne wirkliches Zutun meinerseits habe ich momentan 1600 Facebookfreunde. Die meisten kenne ich nicht im entferntesten persönlich. Ich poste meinen Blog, interessante Artikel, auch mal nur Quatsch, manchmal Fragen, sehr gelegentlich Meinungen, selten Provokationen.

Beginnen wir mit den guten Dingen: Ein Bekannter veröffentlicht interessante Bücher, Bilder, die ihn packen und Auszüge aus gutgeschriebenen SZ-Kritiken. Ein anderer wichtige aktuelle politische Artikel. Ich erfahre wo gerade interessante Inszenierungen laufen, Ausstellungen öffnen. Wenn ich verreise, wissen andere, wo es das beste Eis gibt, die schönste Kirche, das beste Hotel. Wenn ich neu auf ein Thema stoße, kann ich Anstöße bekommen, wo ich am besten beginne, mich zu informieren. bei 1600 Leuten ist fast jeder Beruf, jede Spezialisierung, jedes Hobby vertreten. Und sehr viele Menschen sind hilfsbereit und auskunftsfreudig.

Meine "Blase", die kleine Facebook-Gemeinde, deren Postings ich regelmäßig verfolge, ist dabei keineswegs heterogen. Ich lese Vieles, was mich erstaunt, erschrickt, aufregt. Gut so. Nicht gemütlich werden mit den eigenen Meinungen, zu begreifen, dass Widerspruch, andere, konträre Gedanken und Sichten Berechtigung haben, ist gut für mich.


Andererseits: Unser Umgangston bei Uneinigkeit ist schnell rau, oft hitzig, rasch unverhältnismässig abfällig und manchesmal geradezu verächtlich. Die Fähigkeit zu streiten ohne den Streitgegner, den, der eine von der unseren abweichende Meinung hat, ernst zu nehmen, mit ihm kommunizieren zu wollen, scheint mir auf Erbsengröße verkümmert. Selbst Freunde, die ich in der realen Welt liebe, hacken auf Facebook ohne erkennbaren Eigenzweifel auf Andersmeinende ein, als gälte es, die Welt zu retten, indem man eine harmlose, unsichere Gegenäußerungen auf Facebook in den Boden stampft. Die Wortwahl wird maßlos, die Vergleiche hinken übelst und Unterstellung ist die beliebteste Angriffswaffe. Das Dritte Reich ist dabei ein williger Bereitsteller von Vergleichsbildern oder, dass der andere Ossi ist oder Wessi, oder blind & blöd.

Wer von uns weiß die letzte, unumstößliche Wahrheit über den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern? Wer kennt alle Ambivalenzen der #metoo Debatte? Merkel wird zum ultimaten Monster, Palästinenser zu aggressiven Halbmenschen. Keiner. Aber dennoch wissen wir uns im Besitz der einzigen wahren unbestreitbaren Wahrheit. 

Ich habe sie nicht, leider. Diese Gewißheit. Je älter ich werde und je mehr ich erfahre, desto unsicherer werde ich. Die Weltpolitik droht, mich zu überwältigen. 

Ich weiß, Trump ist ein egomanisches Arschloch, aber mehr als Halb-Amerika wählt ihn? Merkel ist CDU und sitzt alles aus, aber wer sollte es anstatt ihrer sein? Die Hamas ist ein übler Haufen, aber ist Israel deshalb schuldfrei? 

Gib mir die Fähigkeit und die Geduld andere Meinungen auszuhalten und doch zu wissen, wann ich mich ausklinken muß, grob werden sollte oder die Sperrung der Facebook-Seite verlange.

Montag, 21. Mai 2018

Pfingsten - Shavuot

Pfingsten - Ausgießung des Heiligen Geistes: eine irgendwie ungenaue Angelegenheit, wer ist dieser "Heilige Geist" genau?  Im Namen Gottes und seines Sohnes und im Namen von eben diesem. Maria ist raus, der H. G. ist drin. Man nennt ihn die dritte Person der göttlichen Trinität. 
Geist steht auch für Haltung, Stimmung, Wind, Hauch, Atem. 
Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch. (Kohelet oder Prediger)
H.G. war der Mittelsmann bei Mariä Empfängnis, im Lukasevangelium wird beschrieben, dass nach Jesu Abschied der Heilige Geist auf die Jünger herabkam und sie begannen, zu predigen, schwanger oder redselig.   
Ursprünglich hieß das Fest Shavuot - Gott übergab die Zehn Gebote zum zweiten Mal, beim ersten Mal hatte es Schwierigkeiten mit Goldenen Kälbern etc. gegeben, oder es hieß einfach Erntedankfest, weil jetzt im Nahen Osten der Weizen geerntet wurde und wird.
Mein Pfingsten: Familie, Freunde, Lieblingsnichte, herrliches Wetter, Spaziergänge, Schwimmen, ungewöhnlich viele Kinder, wo sind die alle im Winter, Krimi, Grillen. Perfektion.

Gegenbeispiel: Szene in der S-Bahn. Sehr niedliches etwa vierjähriges Kind wirft absichtlich Dinge weg. 
"Mama!"
Mama streichelt Kind und sagt "Heb es auf."
So weit so gut.
Kind spielt, sehr dilettantisch, große Verzweiflung. 
Mama streichelt heftiger und sagt bittend, "Nein Du". 
"Nein Du."
"Nein Du."
"Nein Du."
"Nein Du."
"Nein Du."
Unterlegt mit heftigerem Streicheln seitend der Mutter und noch mieseren Laienschauspieldarbietungen des Kindes.
Mehr als eine eine halbe Stunde ging das so.
So werden künftige Soziopathen erschaffen.
Das Kind ein Manipulator, die Mama ein Lappen. Wo war da der Heilige Geist?
    

Samstag, 19. Mai 2018

Simon McBurney - The Encounter

The Encounter

von Complicité /Simon McBurney
nach dem Roman »Amazon Beaming« von Petru Popescu
Regie: Simon McBurney
Mit:
Simon McBurney

Simon McBurney ist nicht sehr groß, dafür ist es seine Nase, er ist 60, athletisch, beweglich, ein Körper-Clown mit schnellem, trockenem Wort-Humor. 

Ein Mann, ein binaurales Mikrophon (Kunstkopf), zwei andere Mikrophone, zwei Loop Maschinen, ein kleiner mobiler Lautsprecher, ein Handy, Tontechnik, Licht und wenig Video, sehr viele Wasserflaschen aus Plastik und Kopfhörer für jeden Zuschauer. Das binaurale Mikrophon sieht aus wie ein grauer Roboterkopf und nimmt den Raumton mit genauer Ortung der Richtung auf. Da spricht jemand plötzlich links hinter dir, nein, rechts, direkt in dein linkes Ohr und als McBurney dem Kunstkopf ins Ohr blies, habe ich es in meinem Ohr gefühlt. 
Wirkt zwar Vereinsamend im vollen Saal, aber auch ganz intim. Ganz anders, als wenn die Spieler in Kopfmikros sprechen, was mir sie eher entfernt.

Simon McBurney in "The Encounter" © Robbie Jack

Worum ging es? Darum, dass Zeit nicht linear verläuft, dass Realität und Fiktion schwer zu unterscheiden sind. Gutes Beispiel: Wir alle glauben heute ist Samstag, aber es gibt keinen Samstag, er ist nur eine Verabredung, die wir alle eingegangen sind.
Worum ging es? Um unsere ignorante Fremdheit gegenüber anderen Arten gesellschaftlichen Lebens, um unsere nachlässige Vergewaltigung der Natur, um ein Kind, dass nicht schlafen kann und unbedingt ein Geschichte braucht.

Zwei Stunden war der Spieler über meine Ohren in meinem Kopf und es war ein guter Besuch. Manchmal habe ich ihm zugeschaut, manchmal mit geschlossenen Augen nur gelauscht. 

Geschichten erzählen. Mein Lebensberuf.


Münchhausen:
Ich habe Geschichten erzählt. Geschichten, die die Welt am Leben erhalten. Ohne diese Geschichten gäbe es nichts, die Welt würde ohne sie, aufhören zu 


Cagliostro:
Und, wenn du schweigst? Ewige Stille? Weltuntergang? Apokalypse?
Münchhausen:
Wenn ich schweige, wird irgendwo ein anderer seine Geschichte erzählen, eine andere Geschichte! Ein Märchen, eine Romanze, eine Geschichte über einen plötzlichen Tod. Egal! Die Geschichten müssen erzählt werden. Nur deshalb gibt es uns noch!
Cagliostro:
Haben diese Geschichten ein Happy End?
Münchhausen:
Das weiß ich nicht. Ist auch egal, aber sie müssen erzählt werden.


Freie Variation auf "Das Kabinett des Doktor Parnassus" von Terry Gilliam

Woyzeck von Ulrich Rasche beim Theatertreffen

Es is viel möglich. Der Mensch! Es is viel möglich. – Wir haben schön Wetter, hh. Sehn Sie, so ein schöner, fester, grauer Himmel; man könnte Lust bekommen, ein' Kloben hineinzuschlagen und sich daran zu hängen, nur wegen des Gedankenstriches zwischen Ja und wieder Ja – und Nein. hh, Ja und Nein? Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein schuld? Ich will darüber nachdenken.

Ein toller Abend, den ich nach der Pause nicht mehr weitersehen wollte.
War es ein Oratorium? Eine Oper? Tanztheater? Post-Futuristisches Maschinentheater? Eine poetische Reanimation von "Stomp"? Ein bisschen von alledem.
Irrwitziger Widerspruch: Im Programmheft beschreibt Rasche die Ausgangsposition Woyzecks als hell, er sei zufrieden in seiner üblen Lebenssituation, bis ihm sein Ankerpunkt, seine Liebe und sein Kind genommen werden. Aber auf der Bühne sehe ich ab Minute eins eine panische Kreatur. 
Monika Roschers Musik ist durchkomponiert, rhytmisch und bestimmt letztendlich im Pas de deux mit der gewaltigen schrägen Drehbühne das Bühnengeschehen. Die Sprechweise ist für alle Spieler vorgegeben, sicher auch um neben/auf der Musik zu bestehen. Die Worte, Sätze werden gedehnt, synkopiert. Den Partner anzusehen, scheint verboten. Und, um die Position für eine Szene zu erreichen und zu halten und wieder zu verlassen, muß gelaufen werden, ohne Unterlaß. Manche nutzen das für eine spezifische Körperlichkeit ihrer Figur, manche kämpfen damit, den Takt zu halten.




Quelle: Sandra Then

Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.  

Die erste Stunde überwältigten die Bilder mich im besten Sinn, dann war mir das Prinzip klar und ich sehnte mich nach einer Minute ohne Musik oder ohne Drehung oder danach, dass mal jemand einfach nur einen Satz direkt zu jemand anderem sagt. Die Chöre sind beeindruckend. 
Es ist einfach von allem zu viel. Immer auf Wirkung gedacht, ohne Leerstelle, ohne Haspler, Zufälligkeit. Mit wahnsinniger Disziplin läuft der Abend wie eine Riesenuhr.

Schwierig. Solche Energie, aber auch Krampf, Dampf. Machogeprotze. Die Bühnenmaschinerie, das Stampfen, das ständige laute Rufen der Worte, die schwarzen martialischen Kostüme mit den sichtbaren Sicherheitsgurten, die Anspannung in den Körpern auf der Schräge ergibt eine irritierende Wirkung von Militanz, exerzierende Soldaten, in Reih und Glied. Masse. Schleef kommt mir in den Kopf, aber er hat seine Chöre mit Spielszenen abgewechselt. 

Ich bin ein Mann! – Ein Mann, sag' ich. Wer will was? Wer kein besoffner Herrgott ist, der laß sich von mir. Ich will ihn die Nas ins Arschloch prügeln! Du Kerl, sauf! Ich wollt' die Welt wär' Schnaps, Schnaps – der Mann muß saufen! – Kerl, soll ich dir die Zung aus dem Hals ziehn und sie um den Leib herumwickeln? Soll ich dir noch so viel Atem lassen als 'en Altweiberfurz, soll ich? Der Kerl soll dunkelblau pfeifen.
Branndewein, das ist mein Leben;
Branndwein gibt Courage!

Die schönste Szene: Marie und der Tambourmajor, erotisch und verspielt. Die beiden haben es geschafft im Artifiziellen Figuren zu erschaffen mit eigener Beweglichkeit und Denkhaltung. Sehr schön. 

Freitag, 18. Mai 2018

Unser Abgrund

"Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein." 
Friedrich Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse

Was mich erschreckt.
Eine eigentlich harmlose Diskussion auf Facebook über die grauenhaften Geschehnisse der letzten Tage an der Grenze zum Gazastreifen - viele richtige und kluge Argumente - viel unbefragbare Gewißheiten - ein rascher Wille zur verbalen Grobheit - und letztendlich, dass, wenn die eigene richtige Position gefunden wurde, die Trauer über den Tod von Menschen, wie verblendet sie auch seien mögen, zweitrangig wird, wenn wir sie denn überhaupt noch zulassen.
Was passiert mit uns?
Ist es so überlebensnotwendig, eindeutig, überzeugt und hart Stellung zu beziehen in dieser irrwitzig verwirrenden Welt, dass wir den Toten, die doch Täter und Opfer gleichzeitig sind, keine Träne mehr nachweinen wollen? Mitgefühl wird verächtlich abgeurteilt als sentimentale Realitätsverweigerung, denn die Fakten sind die Fakten sind die Fakten. 

Väter & Mütter, die ihre Kinder absichtlich in Lebensgefahr bringen, um Rache zu üben.
Die Hamas, die mafiös internationale Spendengelder veruntreut und 100 Dollar an die eigenen Leute zahlt, damit sie "demonstrieren" gehen und zu möglichen Märtyrern werden, die dann wiederum Renten erhalten werden.
Der demokratische Staat Israel, der an dem Tag an dem 60 Palästinenser erschossen wurden, die Eröffnung einer Botschaft und den Sieg im Eurovisionscontest feiert, an dem Tag, an dem junge israelische Soldaten Menschen erschossen, erschiessen mußten.
Was macht das mit uns?
Jeder Mensch, der vor seiner Zeit stirbt, ist einer zuviel.
Wenn wir Menschen in Ghettos sperren, auch wenn sie noch gut ausgestattet sind, züchten wir die Monster, die wir dann verurteilen und verachten und gleichzeitig verlieren wir an Menschlichkeit.
Weniger Urteile, weniger Meinungen, weniger sichere Standpunkte, wäre eine gute Sache, denke ich.
Ich habe nie in einem Flüchtlingslager gelebt, nie in einem besetzen Gebiet. Meine Familie wurde durch die deutschen Faschisten auf ein Minimum reduziert, aber nie hat jemand mein Recht als Jüdin in Deutschland zu leben, in Frage gestellt. 



Mittwoch, 16. Mai 2018

Israel, meine Liebe, meine Sorge


Ein schrecklicher, unerträglicher Konflikt mit einhundertausend Ursachen und Ausreden, Lügen und Legenden und mehr als einhundertausend Opfern.
Der Staat Israel wird in diesem Jahr 70 Jahre alt. 
Es muß dieses Land geben. Das sei vorrausgeschickt. Weil sonst kein Jude je wieder nirgendwo sicher sein wird.
Aber, welches Terrain ein nicht nachgewiesener Gott dem Abraham aus Ur versprochen hat, ist rechtlich nicht relevant. 
Aber, auch arabische Menschen, die sich heute Palästinenser nennen, haben viele Jahrhunderte in diesem Gebiet gelebt.
Das Britische Empire, "Protektor" dieses Landstriches hat, in den Nachbeben des Holocausts, gemeinsam mit dem Völkerbund, dem Vorläufer der UNO, den Juden, verstreut in alle Winde, gejagt und gemordet in vielen, dieses Gebiet als sichere Heimstatt übergeben. Allerdings ohne die nichtjüdischen Anwohner in ihre Entscheidung einzubeziehen. Viele der arabischen Bewohner flohen in Angst vor einem sicheren Krieg. Die umgebenden, muslimischen Länder beschlossen, das neugegründete Land auszulöschen. Sie verloren diesen Krieg. Recht so.
Seitdem existiert diese Heimat der Juden, demokratisch und liberal, und doch tiefreligiös bestimmt, umgeben von uneinsichtigen Feinden. Reichlich finanziert aus den USA, die ihren militärischen Vorposten aus Eigeninteresse stützen und schützen. Und von den eigenen Orthodoxen und Ultrarechten immer wieder in ungute Extreme getrieben. Denn die Siedlungspolitik Israels beruft sich auf den Tanach, und stiehlt Land unter Berufung auf zweitausendjahre alte Sammelschriften, die ohne jede heutige Beweiskraft sind.
Und die anderen Menschen, die auch dort lebten, in kleinen Dörfern in Häusern mit Gärten und Olivenbäumen, sind geflohen oder wurden vertrieben und leben seitdem als Flüchtlinge in ihrer eigenen Diaspora. Sie leben unter der Herrschaft Israels oder der eines Nachbarlandes und der ihrer eigenen Führer. Mißbraucht, aufgehetzt, verwundet. Sie leben in jahrzehntelang existierenden und doch notdürftigen Lagern und in beengten besetzten Gebieten. Von Generation zu Generation wird unter ihnen der Mythos des goldenen vorisraelischen Zeitalters weitergegeben. Geld- und machtgierige Interessen ihrer eigenen Führer und die aggressive Verformung ihrer Religion tun das ihrige. Das Ergebnis ist Terror, terroristisches Verhalten. Hoffnungslosigkeit führt zu irrationalem Hoffen auf ein Glück in einem Paradies, das es nicht geben wird.
Und jetzt? Jetzt schicken Eltern ihre Kinder in lebensgefährliche Situationen für die "SACHE" und junge Juden schießen auf sie für ihre "Sache". Niemand hat Mitgefühl mit niemandem. Die einen opfern ihre Kinder dem Märtyrertum. Die anderen riskieren ihre demokratischen Prinzipien zu Gunsten der Idee eines größeren Israel.
Der Tempel wurde von David gebaut und Mohamed hat seine Nachtreise dorthin geführt. Jerusalem ist eine Verdichtung von Legenden, Hoffnungen und politischen Absichten. Soviel eingekochte Erwartung ist ein sicherer Quell von Aggression.

Wiki schreibt: Das Völkerbundsmandat für Palästina war ein Klasse-A-Mandat des Völkerbundes, das nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg auf der Konferenz von Sanremo 1920 an Großbritannien übertragen wurde. Auf dem Mandatsgebiet entstanden später das heutige Israel und Jordanien, der Gazastreifen und das Westjordanland. 1923 wurde das Emirat Transjordanien abgetrennt, welches 1946 ein unabhängiges Königreich wurde. De facto erstreckte sich das Mandatsgebiet bis 1948 daher nur noch zwischen Jordan und Mittelmeer (das heutige Israel und die palästinensischen Gebiete). 
Auftrag des Mandats, das am 24. Juli 1922 ratifiziert wurde, war die Hilfe zur „Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“. Dies unter der Bedingung, „dass nichts getan werden soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte bestehender nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina […] beeinträchtigen würde“.  
Das 1922 erteilte Mandat stellte in der Zusammenschau die völkerrechtliche Grundlage für die auf dem Mandatsgebiet entstandenen Staaten Israel und Jordanien dar, wenngleich eine vorgesehene Volksabstimmung nach Beendigung der Mandatszeit von Großbritannien nicht durchgeführt wurde, beziehungsweise ohne eine (nach Völkerbundsatzung Art. 22) Selbstregierung herzustellen. Auch ein Staat Palästina würde das Recht zur Nachfolge des Völkerbundsmandats beanspruchen.  
nnn

Irving Penn im C/O

Ausstellung 24/03/18 bis 01/07/18

Irving Penn . Centennial
Der Jahrhundertfotograf
C/O Berlin im Amerika-Haus Hardenbergstrasse

I can get obsessed by anything if I look at it long enough, that's the curse of being a photographer.
Ich kann kann von allem besessen werden, wenn ich es lang genug anschaue, dass ist der Fluch des Photographen.
I.P. https://www.nytimes.com/1991/11/24/arts/art-irving-penn-is-difficult-can-t-you-tell.html

Es ist ein großartiges Vergnügen, Sachen von jemandem zu sehen, der sein Handwerk wirklich beherrscht. Irving Penn (1917-2009) baut Bilder wie ein Architekt oder ein Bildhauer, geplant, gesetzt, gebaut, bearbeitet, streng, graphisch, beinah harsch. Linien, Wellen, Auswüchse, Flächen gegeneinander strebend. Bei vielen Bilder ist die Schärfe, sind die Kontraste ungewöhnlich hoch. Das kann man auf meinen handgefertigten Aufnahmen natürlich leider nicht erkennen. Portraits, Frauen in Haute Couture, Stillleben, also Portraits in Abwesenheit von Personen. Und Blumen, vergehende.
Ein großer Raum mit Zigarettenstummeln. Paare und Dreier, Abbilder verrauchter Zeit. 




Bitte, unbedingt higehen. Ein Wort, dass ich selten verwende, die Ausstellung hat mich beglückt.



Und noch ein Bild, dass mich überrascht hat, Marlene Dietrich scheinbar ohne Pose.

 
Alle Photographien © Irving Penn Foundation

Sonntag, 13. Mai 2018

Alleinstehend - allein stehend - single

Mein Haushalt besteht aus mir. 
Er tat es nicht immer, aber jetzt ist es so und ich mag es. Ich bin allein stehend, alleinstehend, single. Es hat sich so ergeben, ist nicht unveränderbar, aber keine Warteposition. Es ist was es ist.

Single ist ok, allerdings nur, wenn der/die Alleinlebende jung und cool ist, auf dem Absprung vom Single zum Nicht-Single, sozusagen im Experimentierstadium. Noch ist die Karriere wichtiger, Parties, Clubs, Galerieröffnungen. Wenn plötzlich die Single-Freunde schwanger oder werdende Väter sind, entsteht ein zunächst kleiner Riß.

  
Alleinstehend klingt irgendwie nach selbstverschuldetem Mangel, als würde ich nicht genügen, als fehlte mir etwas oder jemand. Eine Frau ohne Mann & vice versa oder Mann ohne Mann, respektive Frau ohne Frau, sind wie ein Fisch ohne Fahrrad. 
Ich, nur ich und niemand sonst auf weiter Flur. 
Gemieden? Unverträglich? Bindungsunfähig? Asozial? 
Geschieden, verwitwet, oder "sitzengeblieben". Jedenfalls allein, was automatisch mit einsam gleichgesetzt wird.

Bei Frauen ruft das manchmal irrationale Zukunftsbilder hervor: Erst die leicht meschuggene Tante auf Familienfesten mit den merkwürdigen Hobbies, wie Makramee oder dem Sammeln von gruseligen Pädophilen-Puppen, die nächtens auf QVC angeboten werden. Die kleine Rentnerin mit der Einkaufstasche mit Rädern, der Friseurtermin für persönliche Gespräche, der Arztbesuch für Körperkontakt. Zuletzt Albtraum-Visionen von verrottenden Leichen in Ohrensesseln unbemerkt und nicht vermißt, gefunden nach Wochen, daneben eine Katze mit einem halben abgekauten Ohr in der Schnauze.
Die Ängste allenstehender Männer kenne ich nicht so gut.

   
Allein stehend ist eine Haltung, ich bin selbstständig, nicht immer habe ich Stütze nötig, zwei Beine und das Rückgrat tragen mich gut. Und wenn ich Hilfe brauche, habe ich, glücklicherweise, eine Familie, mit der ich nur nicht zusammenlebe, und eine Gruppe von Freunden, die zur Stelle sind, wenn ich mal nicht alleine stehen kann.

Ich kann nachts saubermachen oder Serien hintereinanderweg gucken, meine Zahnpasta ist auf- oder zugeschraubt, der Klodeckel aufgeklappt oder nicht. Zeit und Lust auf eine Reise? Warum nicht. Wer mit mir ist, ist es aus freier Wahl, jedesmal. 
Da gibt es wunderbare Zweckgemeinschaften, um zusammen Jazz zu hören abstruse Off-Theater Inszenierungen zu besuchen, um gemeinsam über miese Filme zu hecheln oder neue chinesische Restaurants auszuprobieren. Und es gibt Liebesbünde, nicht zu erklären, wärmend, sicher. Ohne die wäre ich wahrhaft einsam. 


Einsam, verlassen, trostlos, ohne Gesellschaft, das wäre wahrhaft schrecklich. Ich hoffe inniglich, das niemals zu erleben.

Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen...
 
Rainer Maria Rilke 

Relevntes P.S. Für eine Person einzukaufen ist anstrengend. Kleine Dosen, kleine Portionen von Gefrierwaren. Selten. Schon ein halbes Brot ist viel Brot. Übrigens, das Statistische Bundesamt sagt, rund 41 Prozent aller deutschen Haushalte sind Singlehaushalte. Wir sind also eine marktrelevante Gruppierung, sollte das nicht zu Veränderungen in der Verkaufswelt führen?

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Wiki sagt: Als Alleinstehender oder umgangssprachlich als Anglizismus als Single wird eine erwachsene Person bezeichnet, die ohne feste soziale Bindung an eine Partnerin oder einen Partner sowie ohne minderjährige Kinder im Haushalt lebt. Nach dieser Definition sind Alleinerziehende keine Singles. „Alleinstehender“ ist ein statistischer Begriff für Einpersonen-Haushalte, das Attribut „ledig“ eine amtliche Bezeichnung für Personen, die nie verheiratet waren, „Junggeselle“ eine umgangssprachliche Bezeichnung für denselben Sachverhalt. 

nnn

Sonntag, 6. Mai 2018

Schnupfen

Als eine Rhinitis (griechisches Kunstwort ρινίτις aus rhīs, „Nase“ und -itis, „Entzündung“), einen Nasenkatarrh, Schnupfen oder eine Koryza (auch in latinisierter Schreibweise Coryza; gelehrtes Griechisch κόρυζα für „Erkältung“; heute Wort für die Bettwanze wegen ihres Saugrüssels) wird eine akute oder chronische Entzündung der Schleimhaut durch infektiöse, allergische und pseudoallergische Mechanismen bezeichnet. Am häufigsten tritt sie im Rahmen einer Erkältung auf, sagt Wiki.

Ich habe eine Rhinitis! Eine Coryza! Nein, keine Laus, Schnupfen. Fragt ihr euch nicht auch, wo diese vielen Liter Rotz residieren, bevor sie in hunderten Taschentüchern landen? Ist da ein Hirn in unserem Kopf oder nur ein kleines Knöllchen mit Windungen inmitten einer riesigen Menge Nasenschleim? "Ich bin verschnupft", beschreibt es gut, so was Halbes, als Kränkelei und als Gefühl. Mit Schnupfen ist man nicht krank, man schnieft, schuffelt, schnauft und schnaubt, bis irgendwann die Nase knollengroß und rötlich leuchtet. Mit dick Creme drauf, sieht das noch besser aus.
Niemand hat wirklich Mitleid, wieso auch, es ist nur ein Schnupfen, niemanden interessiert mein Schnupfen wirklich, wieso auch. Aber ich, ich hasse ihn. Er ist unsexy, nicht cool, lästig und unbestimmt spießig. 

 
Es sind über 200 verschiedene Viren bekannt, die Schnupfen verursachen können. 

Ein Schnupfen hockt auf der Terrasse,
auf dass er sich ein Opfer fasse
- und stürzt alsbald mit großem Grimm
auf einen Menschen namens Schrimm.
Paul Schrimm erwidert prompt: „Pitschü!"
und hat ihn drauf bis Montag früh.

Christian Morgenstern



Rotzlöffel: ein weitverbreitetes schimpfwort für junge leute
Das Wort Rotzlöffel ist seit dem 16. Jahrhundert belegt, das vermutlich eine Bildung zu „Löffel“ und „Laffe“ ist und soviel bedeutet wie „einer, der (noch) seinen Rotz ableck“. 
Laffe: ein junger laff, ein fauler unartiger bengel. ein junger laff, ist so viel als ein junger lecker, der noch als ein kind nichts als zunge und lippen gebrauchen kann zu saugen und brei zu lecken. 
laffen: lecken, schlürfen.

Er kommt 3 Tage, bleibt 3 Tage, geht 3 Tage.

SCHNUPFEN

Beim Schnupfen ist die Frage bloß,
Wie kriege ich ihn - wieder los?
Verdächtig ist's: die Medizin
Sucht tausend Mittel gegen ihn,
Womit sie zugibt, zwar umwunden,
Daß sie nicht eines hat gefunden.
Doch Duden sei als Arzt gepriesen,
Der Nießen milderte zu Niesen.
Der bisher beste Heilversuch
Besteht aus einem saubern Tuch,
Zu wechseln un- ununterbrochen
Im Lauf von etwa zwei; drei Wochen.
Zu atemschöpferischer Pause
Bleibt man am besten still zu Hause,
Statt, wie so häufig, ungebeten
Mit bei Konzerten zu trompeten.
Rezept: Es hilft nichts bei Katarrhen
Als dies: geduldig auszuharren.
Der Doktor beut hier wenig Schutz -
Im besten Fall nießt er nur Nutz. 

Eugen Roth
 

Mittwoch, 2. Mai 2018

Krise beim Besuch von Castorfs "Faust"

Ich gehe noch immer gern ins Theater, und oft, und durchlaufe dabei zyklische Krisen. Hasse alles, urteile mild, bin offen. 
Seit einiger Zeit aber knirscht es mächtig in meinem Gebälk. Es häufen sich die apokalyptischen Abende, die, die die Lebenslust schon hinter sich haben. Der Mensch ist bös, ihm ist nicht zu helfen. Ein hartes Fazit, und nur mit ironischer Brechung zu vermitteln, weil wir, die Zuschauer, uns ja sonst nach Vorstellungsende, in klarem Einverständnis, eine Weißweinschorle trinkend, die Pulsadern unserer weißen priveligierten Arme öffnen würden. Tun wir aber nicht. Wir gehen nur angeregt ins Bett. 
Meist sind die Regisseure, beruflich erfolgreich, deutsch und über Fünfzig.
Stefanie Reinsperger bot in Thalheimers "Kaukasischem Kreidekreis" ihre beeindruckende Kraft dafür auf, zu erleiden, zu zucken, zu unterliegen. Valery Tscheplanowa hat heute abend in Castorfs "Faust", ziemlich allein, ihr würdevolles Frau- und Schauspielerin-Sein in die Wagschale der Menschlichkeit gelegt. Die anderen Spieler, großartig, hochartifiziell und vital zelebrierten ausgiebig den lustzitternden Untergang. 
Ich will leben, will das meine Lieblingsnichte ein gutes Leben leben kann, habe also keinerlei dekadente Freude an unserer baldigen Vernichtung.
Härte, brutale Genauigkeit bei der Analyse unserer Geschichte ist immens wichtig, aber mit welchem Ziel? Selbstverachtendes Amüsement? Masochistische Geiselung? Erschöpfter Zynismus bekümmert mich. Wo ist unser Widerstand? Gegen uns selbst. Gegen depressiv behauptete Unvermeidbarkeit, Unveränderlichkeit? Ich mag mir solche Selbstverachtung, solche Lust an unserer Schuld nicht leisten, weil ich sicher bin, dass ich bald sterbe und andere, auch die Lieblingsnichte, weiterleben werden.

Ich habe heute einen beeindruckenden Theaterabend gesehen, den ich nicht mag, weil er sich vergnügt in der Aussichtslosigkeit unserer Gesellschaft. Ich will Wut, Trauer, Schuldgefühl, Verzweiflung, Widerstand. 


Valery Tscheplanowa (Deutschlandradio / Sandro Most)
 

„Ja, es wäre der Mühe wert, das Verhalten Hitlers und des Hitlerismus einer detaillierten klinischen Studie zu unterziehen und dem ach so distinguierten, ach so humanen, ach so christlichen Bürger des zwanzigsten Jahrhunderts mitzuteilen, dass Hitler in ihm ‚haust‘, dass Hitler sein ‚Dämon‘ ist, dass er, wenn er ihn rügt, einen Mangel an Logik verrät, und dass im Grunde das, was er Hitler nicht verzeiht, nicht das ‚Verbrechen‘ an sich, das ‚Verbrechen am Menschen‘, dass es nicht ‚die Erniedrigung des Menschen an sich‘, sondern dass es das Verbrechen gegen den weißen Menschen ist, dass es die Demütigung des Weißen ist und die Anwendung kolonialistischer Praktiken auf Europa, denen bisher nur die Araber Algeriens, die Kulis in Indien und die Neger Afrikas ausgesetzt waren."
Aimé Fernand David Césaire

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