Sonntag, 31. Dezember 2017

2018

Multimorbidität des alten Menschen
oder genauer meine persönliche Morbidität 


Unter Multimorbidität oder Polymorbidität (lat. für Mehrfacherkrankung) versteht man das gleichzeitige Bestehen mehrerer Krankheiten bei einer einzelnen Person, sagt Wiki.
Wann bin ich alt?

Wenn ich denkfaulen Vorurteilen Raum lasse. "Früher war alles besser", um Gottes Willen, was für ein ein Quatsch. Früher war es genauso, nur wußte ich nichts davon oder habe es ignoriert.

Wann bin ich alt? 
Immer gerade jetzt noch nicht. Aber bald. Solange es noch Ältere gibt, habe ich noch Zeit. In jungen Jahren schien mir SECHZIG ein trauriges Enddatum zu sein. Mit SECHZIG gab es die schmale Rente, die Kleidung war urplötzlich altersbeige, die Schuhe hässlich und bequem, die Haare normiert bläulich dauergewellt. Erotik Null. Sex nicht einmal mehr erinnert. Was war ich für ein ignorantes junges Arschloch.
Wann bin ich alt?
Für andere? Für Jüngere. Im eigenen Kopf? Im eigenen Körper?
Beim Familienfest teilt eine wunderschöne Siebenjährige großzügig ihr geschenktes Brausepulver mit mir. Es pritzelt so. Mitten in meine Blechtrommelerinnerung sagt sie staunend: "Das eine so alte Frau sowas noch macht!"
Wann bin ich alt?
Ein dummer Student entschuldigt sein schlechtes Benehmen mit "Aber ich habe Dir doch geholfen, Dich jung zu fühlen."  Brauchte ich seine Hilfe? Oder er eher meine?
Mein liebster Horst, den der Krebs rücksichtslos weggerafft hat, war jung, weil er immer Neues lernen wollte. Sicher mit mehr Zeitdruck als in jüngeren Jahren, aber mit sichtlich großem Vergnügen.
Ein anderer Freund, der nun seit mehr als einem Jahr im Krankenhaus liegt, will dringend die "Welt am Sonntag" lesen, um politische Vorgänge genauer zu recherschieren.
Meine "ältere" Freundin läuft durch den Brandenburger Wald mit den staunenden Augen einer Abenteurerin. Die Lunge piept, das Gehirn jubelt.
Wann bin ich alt?
Ich bin heute gutmütiger, großzügiger, als ich es früher war. Gelassener. Cooler.
Ich weiß mehr, weil ich mehr gelebt habe. Keine persönliche Leistung, einfach Ansammlung von Zeit. Ich vergesse auch leichter. Noch keine Demenz, nur weniger Verkrampftheit.
Wann bin ich alt?
Wikidefiniert es kühl: Unter dem Alter versteht man den Lebensabschnitt rund um die mittlere Lebenserwartung des Menschen, das Lebensalter zwischen dem mittleren Erwachsenenalter und dem Tod. Das Altern in diesem Lebensabschnitt ist meist mit einem Nachlassen der Aktivität und einem allgemeinen körperlichen Niedergang (Seneszenz) verbunden.
Und eine andere Website definiert dann Seneszenz so: Seneszenz w (von latein. senescere = altern), Pflanzen, Pilzen, Tieren und Mensch gemeinsamer Alterungsprozeß, der im allgemeinen mit der Akkumulierung schädlicher Substanzen, Gewebsveränderungen sowie dem schrittweisen Verlust zahlreicher physiologischer Funktionen einhergeht. Insgesamt manifestieren sich diese Prozesse in einer verminderten Anpassungsfähigkeit gegenüber Umwelteinflüssen, was zu diversen Alterungskrankheiten („Multimorbidität des alten Menschen“) und schließlich zum Tod des Individuums führt. 
Wann bin ich alt?
Bald. 

WENN EENA DOT IS
Für Paul Graetz

Wenn eena dot is, kriste 'n Schreck.
Denn denkste: Ick bin da, un der is weg.
Un hastn jern jehabt, dein Freund, den Schmidt,
denn stirbste 'n kleenet Sticksken mit.

Der Rest is Quatsch.
Der Pfaffe, schwarz wien Rabe,
un det Jemache an den offnen Jrabe ...
Die Kränze ... ! Schade um det Jeld.
Und denn die Reden – hach du liebe Welt –!

Da helfen keine hümmlische Jewalten:
die Rede muß der Dümmste halten.
Un der bepredicht sich die schwarze Weste
un hält sich an Zylinder feste.
Wat macht der kleene Mann, wenn eena sanft vablich?
Er is nich hülflos – er ist feialich.

Leer is de Wohnung. Trauer, die macht dumm.
Denn kram se so in seine Sachen rum.
Der Tod bestärkt die edelsten Jefühle,
un denn jibs Krach, von wejn die Lederstühle.

Der Zeitvesuv speit seine Lava.
Denn sacht mal eena: »Ja, wie der noch da wah –!«
Denn ween se noch 'n bisken hinterher,
und denn, denn wissen se jahnischt mehr.

Wenn eena dot is, brummts in dir:
Nu is a wech. Wat soll ickn denn noch hier?
Man keene Bange,
det denkste nämlich jahnich lange;
ne kleine Sseit,
denn is soweit:
Denn lebst du wieda wie nach Noten!

Keener wandert schneller wie die Toten.

Theobald Tiger
Die Weltbühne, 24.05.1932, Nr. 21, S. 792.


Freitag, 29. Dezember 2017

Tote Bäume

HEUTE IN EINEM BRANDENBURGISCHEN WALD, GENAUER BEI BOLTENMÜHLE. 
NATURSCHUTZGEBIET.
DIE STÜRME DES LETZTEN JAHRES HABEN IHRE OPFER HINTERLASSEN.  
VON WILDEN WINDEN GEFÄLLTE BÄUME ALLÜBERALL. 
WIE WÄRE ES, WENN UNSERE TOTEN, AUCH SO UNTER UNS BLIEBEN. 
ANWESEND. NICHT VERSTECKT, VERBORGEN, VERGRABEN.  
DER TOD ALS NEBEN, MIT UNS, UM UNS EXISTIERENDES.
DIE BAUM-LEICHEN SIND ERHABEN SCHÖN.
WIR VERFAULEN. 
WÄRE AUCH DARIN SCHÖNHEIT ZU FINDEN? 
WENN WIR SIE DENN SEHEN KÖNNTEN?
FÖRSTER DURCHSTREIFEN DEN WALD UND MACHEN DIE WEGE BEGEHBAR.
LEICHEN WERDEN SAUBER HALBIERT, WENN SIE DEN DURCHGANG VERSPERREN.
PRAGMATISMUS GEPAART MIT ACHTSAMKEIT.
DIESER WALD IST EIN LEBENDIGES WESEN, EINSCHLIESSLICH SEINER TOTEN.


Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang. 

Rainer Maria Rilke
 



Mumie Ramses des II.
Wikimedia Commons, Lizenz: CC-BY-SA-3.0


 SPIEGELUNG
 



DREI GEMEINSAM GESTORBENE

 INNIG VEREINT


 GEFÄLLT


 EINE GIGANTISCHE LEICHE


 ETWAS LEBENDES AUS ETWAS TOTEM




IM STURZFLUG GEFANGEN

Freitag, 22. Dezember 2017

ANATEVKA oder DER FIEDLER AUF DEM DACH

Ich bin überraschter Abkömmling einer der einstmals (vor 33) üblichen jüdischen Familien. Unsereins lebte sehr lange in Deutschland, Österreich und Rumänien. Wo wir davor wohnten, weiß ich nicht. Wir waren und sind zerstreut, verstreut worden. Der schickere Begriff ist DIASPORA.
Zwei kleine unscharfe Photos zeigen mir die Familie meiner Großmutter lose vereint um einen Chanukkaleuchter. Ihre Mutter, Leopoldine Pollak, gestorben am 4. März, 1927 in Wien, Österreich durch eine Hirnembolie nach Magenkrebs, ihr Vater, Siegfried Weigl ermordet am 20 Januar 1942 im Ghetto Lodz, ihre Schwester, Stella gestorben 1934 an einem Fieber. Glück gehabt? Sie, Helene Weigl, war auf der Flucht, und konnte ihre in Österreich etablierte
Familie nicht zum Mitkommen überreden. Deren Tod wurde ihr nur im Nachhinein bekannt. Ich habe keinen von ihnen kennengelernt. Meine Familie mütterlicherseits ist hitlerbedingt sehr klein.
Heute "Anatevka - Der Fiedler auf dem Dach" in der Komischen Oper.
Barrie Kosky bemüht sich ernsthaft und kunstvoll das Andenken an seine eigene Familie zu ehren und was kommt dabei heraus? Jiddischer Kitsch.
"Viele meiner besten Freunde sind Juden", "Sie haben Humor und Mutterwitz", ach, es ist schade. 
Eine nicht mehr existierende Welt wird zelebriert und im Ergebnis entsteht banale Folklore. Blackfacing auf jüdische Art. Angeklebte Schläfenlocken schaukeln, gute Laune wird zum Lebensprinzip, wenn Konflikte entstehen, werden sie weggelacht oder weggeweint.
Da lebten einst Menschen unter, meinen Ansichten nach, zutiefst reaktionären Parametern in feindlicher Umwelt und in Reaktion auf diese mörderische Bedrohung zogen sie sich in noch realitätsfernere Wirklichkeiten zurück. "Unorthodox" von Deborah Feldman ist ein verstörendes Buch über die Lebensqual einer jungen Frau, die in eine orthodoxe jüdische Gemeinschaft der heutigen Stadt New York geboren wird und ihr um einen hohen Preis entkommt. 
Die Choreographie ist atemberaubend gut. Dagmar Manzel auch. Eine Stunde weniger täte dem Abend gut, auch wenn ich die Überlänge verstehe.Und das berühmte Lied, natürlich. Übrigens das einzige, das hängenbleibt.


 Marc Chagall

Wäre ich kein Jude (mit allem, was dieses Wort für mich beinhaltet), ich wäre überhaupt kein Künstler oder aber ein ganz anderer Mensch. Das ist keineswegs etwas Neues. Was mich betrifft, so weiß ich ziemlich gut, zu welchen Leistungen dieses kleine Volk fähig ist. Leider bin ich bescheiden und kann nicht aufzählen, was es alles zu leisten vermag. Etwas Beschwörendes – das ist es, was dieses kleine Volk vollbracht hat! Als es wollte, hat es Christus und das Christentum hervorgebracht. Als es sich anstrengte, gebar es Marx und den Sozialismus. Ist es nicht denkbar, dass es der Welt auch eine Kunst, irgendeine Kunst gegeben hat? Schlagt mich tot, wenn das nicht stimmt."  Marc Chagall

Freitag, 15. Dezember 2017

Das Gute

Wir alle meckern. Gern und ausschweifend und oft und meist mit Recht. Wie sollten wir auch nicht, wenn die Leute, die wir schweren Herzens gewählt haben, miteinander hadern, wie die Mitglieder eines chaotisch organisierten Swingerclubs, wenn der Flughafen, den keiner wirklich will, circa 7 Milliarden Euro kosten und dann doch nicht funktionieren wird, wenn der neue Chef der Volksbühne, seine zu weiße Föhnfrisur schüttelt und mißbilligend den Bezirk Mitte als unerträglich tituliert, usw., usw..

ABER. Aber ich hatte heute wieder einen Plausch mit dem nettesten lebenden Postboten, im Edeka sitzt ein etwas fülliger junger Mann an der Kasse, dessen gute Laune auch durch zweihundert norwegische Jugendliche, die nur ein Bier kaufen, nicht zu verderben ist, der Zigarettenverkäufer sortiert für mich zuvorkommend alle Gauloise-Packungen mit ekligen Geschwüren und schwarzen Zähnen aus, und verkauft mir dann nur die mit den schlecht inszenierten Leidenstableaus. Der reizende hagere Klempner ist dreimal wiedergekommen, weil die Badezimmerheizung immer noch gesponnen hat. Meine Freundin hat mir Senf und weiße Tulpen geschenkt. Ich habe einem Freund heute ein gutes Geschenk machen können. Und eine andere Freundin freut sich wie Bolle, weil sie bald in Albanien Kindern und Lehrern die Finessen der deutschen Sprache schmackhaft machen wird.

Gestern hat ein mir nicht bekannter junge Mann auf Facebook im Zusammenhang mit einer Brechtinszenierung locker "Bei Brecht hoff ich echt. Dass Erben sterben." formuliert, und also mir und einigen meiner Verwandten den Tod an den Hals gewünscht. Er hat keinen blassen Schimmer, was wir tun. Er weiß auch nicht, was meine Mutter, das mythische böse Brecht-Gespenst getan hat. Aber ein Kollege hat mir heute eine schöne Anekdote erzählt. Er, sehr jung, spielt den Flieger im "Guten Menschen von Sezuan" an einem süddeutschen Stadttheater. Der Regisseur inszeniert wild, Musik aus sämtlichen Stücken, neu arrangiert, überhaupt alles anders. Zu einem Durchlauf kommt meine Mutter, unterbricht zur Hälfte aufgeregt mit "So geht das nicht". Der Regisseur fragt "Warum?". Sie antwortet: "Weil, weil, ... Es ist nicht gut."
Sklavische Stücktreue ist öde, aber Dekonstruktion garantiert leider auch keinen guten Abend. 


DAS GUTE

Es ist gut zu wissen, dass es auch
die andern gibt; die, die
dir den Arsch abwischen, ohne zu murren.
Die dir ein Lächeln schenken
mitten im Feiertagsgewühl, die ihren Wagen
abbremsen, damit du die Spur wechaseln
kannst.

Es ist gut zu wissen, dass
es Menschen gibt, die sichdem
Schlechten widersetzen,
ohne an den Preis zu denken; 
einfach so, ganz selbstverständlich.

Und es ist gut, hier oben zu 
sitzen. Allein. Ohne Frau und ohne
Streit. Und meinen Gedanken 
nachzuhängen. während es draußen schneit
und der junge Vietnamese seinen
Laden wie immer pünktlich
auf die Minute öffnet und auf Kundschaft
wartet, während er auf seinen kleinen
Farbfernseher 
blickt.

Und es ist gut zu wissen, dass es
nicht sehr lange dauern wird, bis der
erste bei ihm eintritt. Ein
Feuerzeug erwirbt, Kaffee oder ein Heft
mit Kreuzworträtseln, und dass er
ihn bedienen wird, wie jeden andern auch,
und ohne einen Unterschied zu machen;
Scherz auf den Lippen. Während die Kasse
klingelnd aufspringt und ein Taxi auf der andern
Strassenseite hält.

Florian Günther 
AUS DER TRAUM 
Moloko Print 
Fotografien von Michael Dressel


Samstag, 9. Dezember 2017

Kinky Boots

Nach dem auf einer wahren Begebenheit beruhenden Film "Kinky Boots" von Geoff Deane and Tim Firth über einen Schuhfabrikanten aus Northhampton, der seine vor dem Bankrott stehende Fabrik, durch Spezialisation auf hochhackige Stiefel für Transvestiten zu retten versuchte, haben Harvey Fierstein und Cyndi Lauper ein Musical geschrieben. 
Mann erbt hochverschuldete Schufabrik vom Vater. Er lernt eines Nachts durch Zufall eine Dragqueen kennen. Die beiden beginnen, Freunde zu werden. Dragqueen entwirft Schuhe, Mann produziert sie. Beide haben Vaterprobleme. Konflikt, noch mehr Konflikt und ... Happy End, bei dem alle Mitglieder des Ensembles in geilen Stiefeln tanzen. 
https://de.wikipedia.org/wiki/Kinky_Boots_(Musical) 

Die Besetzung ist ungewöhnlich durchmischt für ein Musical. Dünne, dicke, junge, alte, schwarze und weiße Menschen beiderlei Geschlechts spielen sich die Seele aus dem Leib, und das sieben Mal die Woche! Warum klingen die eigentlich nicht so gekünstelt wie viele deutsche Musicaldarsteller, sondern wie richtig gute Sänger? 
https://www.youtube.com/watch?v=aV-PlANg7Xs

Ein Spaß, ein Gaudi - toll gesungen, gespielt und getanzt, von allen. Aber getoppt von einer supercoolen Sechsmann-Gang von langbeinigen, charmant-aggressiven Drag-Prinzessinnen mit rauen Gesichtern. Die Drag-Kostüme sind fabelhaft und die anderen stimmen genau. Und die Stiefel!!!
Klar ist es auch kitschig, aber wenn man der harschen Realität einen Traum abgewinnen kann, ist das, wenn es so gut gemacht ist, höchst ehrenwert. Ich denke Harvey Fierstein hat mit Torchsong-Trilogy (Das Kuckucksei),
La Cage aux Folles und Kinky Boots vielleicht mehr für die LGBTQ... Gemeinschaft erreicht, als mancher Verfasser, manche Verfasserin von Genderstudien. Heute Abend hat der Saal gestanden!


What does "lgbtqia+" stand for exactly?

If you're just learning about sexuality, gender, and all these other things, they can be a little hard to remember. This acronym not only serves as a symbol of our movement for rights, but even as a memory tool for those who need a little help.
L - Lesbian. Lesbian is a term used to refer to homosexual females.
G - Gay. Gay is a term used to refer to homosexuality, a homosexual person, or a homosexual male.
B - Bisexual. Bisexual is when a person is attracted to two sexes/genders.
T - Trans. Trans is an umbrella term for transgender and transsexual people.
Q - Queer/Questioning. Queer is an umbrella term for all of those who are not heterosexual and/or cisgender. Questioning is when a person isn't 100% sure of their sexual orientation and/or gender, and are trying to find their true identity.
I - Intersex. Intersex is when a person has an indeterminate mix of primary and secondary sex characteristics.
A - Asexuality. Asexuality is when a person experiences no (or little, if referring to demisexuality or grey-asexuality) sexual attraction to people.
+ - The "+" symbol simply stands for all of the other sexualities, sexes, and genders that aren't included in these few letters.


https://lgbtqiainfo.weebly.com/acronym-letters-explained.html


Donnerstag, 7. Dezember 2017

Camus im Stil von Kruse

Der verlorene Sohn: 
"Ich bin zurückgekehrt..." 
 

"Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn man jetzt die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will."
Franz Kafka 

Der für den bei Lukas das Kalb geschlachtet wird ist einer, Kafka hat über sich als einen  solchen geschrieben, Isaak und Orest sind es, der verlorene Sohn hat einen eigenen Wikipediaeintrag. In gewisser Weise ist auch Jesus einer von ihnen. 
Für die religiösen Bedürfnisse scheint mir die Ableitung von der infantilen Hilflosigkeit und der durch sie geweckten Vatersehnsucht unabweisbar, zumal sich dies Gefühl nicht einfach aus dem kindlichen Leben fortsetzt, sondern durch die Angst vor der Übermacht des Schicksals dauernd erhalten wird. Ein ähnlich starkes Bedürfnis
aus der Kindheit wie das nach dem Vaterschutz wüßte ich nicht anzugeben."  
Siegmund Freud

Im "Mißverständnis" von Albert Camus, kehrt ein verlorener Sohn, im Ausland wohlhabend geworden, nach Jahren der Abwesenheit heim, gibt sich aber, nicht zu erkennen. Seine Mutter und Schwester führen eine schlecht laufende Herberge und töten ihre wenigen Gäste, um mit deren Geld einst ans ersehnte Meer ziehen zu können. Auch der unerkannte Fremde wird vergiftet. Als die Mutter erfährt, wen sie gemordet haben, begeht sie Selbstmord, die Schwester lebt und wird nie das Meer sehen. 
Melodrama und philosophischer Diskurs, sicher kein großes Stück, aber was Jürgen Kruse und seine Schauspieler darin und darum gefunden haben, ist betörend. Die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt ist ein Begriff den Camus im "Fremden" verwendet und er beschreibt diesen Abend gut. Die Bühne ist geheimnisvoll zugemüllt und nur spärlich beleuchtet, der Soundtrack eine eigenartige Mischung von Biermann, französischen Schlagern und Rockmusik der 70er. Die Figuren zitieren ihre Worte spielerisch und flirrend. Wortverwechsler & -witze, Liedzitate, grammatikalischen Verkürzungen spitzen den etwas zu deutlichen Text zu. Jedi-Speak mit nachgesetztem "nicht", gibt Sätzen an ihrem Ende eine überraschende Wende. Feind-selig. Einzel-haft-heiten. Manuel Harder ist ein cooler Wortjongleur! Starke Frauen geben ihm Widerstand, nahezu schweigende Figuren fixieren den Rhytmus.
Es ist sehr viel los auf dieser Bühne und ich bin in Freiheit zu schauen, zu hören. Nicht das autistische Getue a la Kennedy, dass mich durch Langeweile in Trance versetzen will und es mangels Schönheit nicht schafft, sondern hochartifizielles, gedachtes, witziges Spiel der Darsteller miteinander und mit mir. Es wird von mir erwartet, dass ich mitdenke. Da habe ich, unerwartet, etwas mir Neues gesehen, dass ich nicht wirklich verstehe, aber das mich zutiefst sinnlich vergnügt hat.
 Foto: Arno Declair
Das folgende Lied wird über den Abend immer wiedermal angesungen:
Fahrende Musikanten
von Nina & Mike 
Wir zwei, wir haben lang allein getingelt
Hejo, hejo, ho
Und oftmals hat die Kasse nicht geklingelt
Hejo, hejo-ho
Dann eines Tages lernten wir uns kennen
Hejo, hejo, ho
Und seither woll'n wir uns nie wieder trennen (Nie wieder!)
Hejo, hejo-ho
Oh oh oh
Fahrende Musikanten
das sind wir
Immer auf Achse
das sind wir
mit unser'm Lied
das nur von Liebe und Leid erzählt
 
Fahrende Musikanten für immer
selten zu Hause für immer
Wir und unser Lied gehör'n der ganzen Welt.

Tagaus
tagein
so zieh'n wir durch die Lande
Hejo hejo ho
Wie früher mal so manche Räuberbande
Hejo hejo ho
Wir haben beide nie den Mut verloren
Hejo hejo ho
Wir sind nun mal für die Musik geboren
Hejo hejo ho

Oh oh oh
Fahrende Musikanten
das sind wir
Immer auf Achse
das sind wir
mit unser'm Lied
das nur von Liebe und Leid erzählt
 
Fahrende Musikanten für immer
selten zu Hause für immer
Wir und unser Lied gehör'n der ganzen Welt.

Uns lockt jeden Tag der Applaus
drum zieht es uns ein Leben lang hinaus.

Oh oh oh
Fahrende Musikanten
das sind wir
Immer auf Achse
das sind wir
mit unser'm Lied
das nur von Liebe und Leid erzählt
 
Fahrende Musikanten für immer
selten zu Hause für immer
Wir und unser Lied gehör'n der ganzen Welt.

Sonntag, 3. Dezember 2017

Toller Tanz

Im Foyer stehen auffällig viele Menschen lässig und übergerade in der dritten Position. Sie schwatzen beschwingt. Sie erwarten einen Genuß und werden ihn bekommen. Tänzer, die fast nichts verdienen, kaufen sich sehr teure Karten, um noch bessere Tänzern beim Arbeiten zuzusehen.

Das Nederlands Dans Theater gastiert mit vier sehr unterschiedlichen Choreographien im Haus der Berliner Festspiele. 

Es stimmt, die Karten sind teuer, aber hier "bekommt man was geboten für sein Geld".

Ein Ensemble von Künstlern, die unfassbar hart arbeiten und es unanstrengend erscheinen lassen. Sie tanzen, als wollten sie die Zeit überholen. Und fast gelingt es ihnen. 

Mein Respekt vor Tänzern ist enorm. Sie müssen sich quälen, um großartig zu sein, mit Schmerzen, und zwar täglich. Und dann, wenn sie richtig begreifen, was sie tun und was ihnen möglich ist, beginnt ihr Körper schon, zu revoltieren. Und für dieses harte Leben und ihre tiefe Liebe zum Tanz werden sie auch noch beschissen bezahlt. Ein Schauspieler kann sich notfalls auch mal durchschummeln. Nicht gut, aber möglich. Ein Tänzer kann das nie. Er muß blankziehen, jeden Abend.

N°1 Marco Goecke "Woke up blind" zu zwei Songs von Jeff Buckley. Menschentiere in unvorhersehbarem abrupten Wechsel zwischen Wahnsinnstempo und Ruhe, synkopiert von Fauchern. Manche Bewegungen so schnell, dass das Auge nicht folgen kann und ein Arm plötzlich wie ein Fächer scheint. Dann, dazwischen gesetzt, sieben Tänzer in vollkommener Synchronität.

Jeff Buckley "The way young lovers do" - ein tolles Lied
https://www.youtube.com/watch?v=rEv1dzbSYxg  

N°2 Crystal Pite & Jonathon Young "The Statement"
Ein kafkaesker Dialog an, auf, unter einem Verhandlungstisch zwischen unterer und oberer Etage über Krieg, Geschäfte und Verantwortung. Der Text läuft über Band und wird getanzt. Die Haltungen, Floskeln, Ausreden, Befehle, die Untertexte, die Machtkämpfe - der Text und viel mehr als der Text, all das, was ich bei Frau Kennedy vermißt habe, das Mehr. Grandios!!!!! 

Wie zählt man so etwas. Mit bloßem 1 bis 8 kommt man hier nicht weit. Die Musik muß den Körper durchdringen und auch die Gedanken der Choreographie. Denken und Tanzen.



https://www.youtube.com/watch?v=rragD1P34NA 

Nach der Pause wird es etwas konventioneller, aber die Qualität der Ausführung bleibt erstklassig.

...
auf dem Tanzboden wuchs das Gras
und der rote Mond schien durch das Dach,
'ne Musik gab's da,
da wurde was geboten für sein Geld!
Joe, mach die Musik von damals nach!

Bilbao Song b.b.