Sonntag, 13. November 2016

Kühnel & Kuttner lieben das Fatzerfragment - Brecht lebt schon noch

Nach langer Zeit wieder einmal im Deutschen Theater, auf der Premierenfeier habe ich unabsichtlich Gesprächen zuhören müssen, die mir hart ins Gedächtnis riefen, warum ich einstmals, als ich ihr noch angehörte, die Berliner Theaterszene nicht recht verknusen konnte. 
Aber der Abend, immerhin 2 1/2 Stunden ohne Pause, war spannend und meine Begleitung angenehm.

Fatzer ist gar kein Stück, sondern 500 Blätter mit Plänen, Entwürfen, einzelnen Zeilen, Chorpassagen, Szenenfragmenten, die Brecht von 1927 bis 1931 notiert hat. Heiner Müller nannte das wilde Ding ein Objekt seines Neides
Einer für sich und damit allen schadend? Wer sind alle? Was ist falsch mit der Welt, wenn für sich sein, einem Verbrechen gleichkommt?

Ich scheiße auf die Ordnung der Welt 
Ich bin verloren

1918, Mülheim an der Ruhr. Ein Mann klettert aus einem Panzer.

Ich mache 
Keinen Krieg mehr, sondern ich gehe
Jetzt heim gradewegs, ich scheiße
Auf die Ordnung der Welt. Ich bin 
Verloren

Das sagt Fatzer, der zu einer Gruppe von vier Deserteuren gehört. Die Versprengten versuchen, dem Krieg zu entkommen, ihn zu bekämpfen, den Umsturz zu wagen. Die Gruppe wird durch widerstreitende Interessen gespalten, es kommt zum Verrat, zu einer Exekution. Am Ende sind alle tot. 
http://jungle-world.com/artikel/2014/28/50209.html 

Es gibt fünf Schauspieler und eine sehr gute Zweimann-Band namens "Ornament & Verbrechen", die Reihenfolge der Szenen wird abendlich ausgelost, nur die neunte, die letzte, nicht. Kleinere Nebenrollen und der Chor werden vom Publikum karaokeartig gelesen. Chor und Gegenchor. Ein gelber Punkt bestimmt das Lesetempo, Schrägstriche die Pausen, der Atem wird so notwendigerweise synchronisiert, die Konzentration erhöht. Das ist gut. Man liest, spricht, versteht kaum, was man spricht und doch versteht der Körper. Zwang zum Denken. 

Von nun an und für eine lange Zeit
Wird es auf dieser Welt 
keine Sieger mehr geben, sondern 
nur Besiegte. 

Photo von der englischen Seite des Deutschen Theaters

"Sich mit dem Fatzer von Bertolt Brecht auseinanderzusetzen ", schreibt Fabrizio Arcuri, "bedeutet, eine regelrechte Schreibsporthalle zu betreten: voller Streichungen, Neuformulierungen, in der Schwebe gebliebenen Fragmenten – wobei sich die klare und deutliche Empfindung einstellt, das Ganze nicht mehr in den Griff zu bekommen. Brecht verfaßte diesen Text im Streben nach einer neuen, offenen dramaturgischen Form, doch der eingeschlagene Parcours zog ihn so weit mit sich fort, daß er verführt war, ein Werk zu verfassen, das (auch seiner eigenen Einschätzung nach) Seite für Seite zu einem unspielbaren wurde. Es liegt also auf der Hand, daß jede mögliche Lösung des Fatzer-Rätsels heute nur partielle Ergebnisse erzielen kann. Dennoch erweist sich eben diese Schwierigkeit, dieses entwaffnende Gefühl des Scheiterns, mit jeder neuen Lektüre als das vielleicht konkreteste und grundlegendste Element des gesamten Werkes. Im Fatzer werden die Widersprüche nicht explizit gemacht, da ist kein tugendhaftes Verhalten, das seiner Nemesis entgegensteht, sondern eine Aufeinanderfolge von Sichtweisen, deren alleiniges Resultat die Katastrophe ist: Egal welcher Art sie ist, die bezogene Position führt notwendig zum Scheitern.
Aus einem Text zur Inszenierung an der Volksbühne Berlin
Eine Produktion des Teatro Stabile di Torino im Rahmen der Theaterpartnerschaft "Fatzer geht über die Alpen" zwischen der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und der Fondazione del Teatro Stabile di Torino, gefördert im Fonds Wanderlust durch die Kulturstiftung des Bundes

1 Kommentar:

  1. Ja, Johanna Du sprichst mir aus der Seele. Die Gründe für den Abschied aus diesem Theater werden mir bei jedem Besuch ebenfalls bewusst. "Ornament&Verbrechen" kennst Du übrigens von der Inszenierung "Die Geisel".

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