Freitag, 10. Januar 2014

Heiner Müller war einmal sehr jung und gestern wäre er 85 geworden




Möchten Sie noch mal jung sein? 
Ich neige nicht zu überflüssigen Betrachtungen.

 
Gespräche zwischen Alexander Kluge und Heiner Müller

Heut nacht durchschritt ich einen Wald im Traum 
Er war voll Grauen nach dem Alphabet 
Mit leeren Augen die kein Blick versteht 
Standen die Tiere zwischen Baum und Baum 

Vom Frost in Stein gehaun aus dem Spalier 
Der Fichten mir entgegen durch den Schnee 
Trat klirrend träum ich seh ich was ich seh 
Ein Kind in Rüstung Harnisch und Visier 

Im Arm die Lanze deren Spitze blinkt 
Im Fichtendunkel das die Sonne trinkt 
Die letzte Tagesspur ein goldner Strich 
Hinter dem Traumwald der zum Sterben winkt

Und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich 
Sah mein Gesicht mich an: das Kind war ich.

 
Alexander Kluge

Erinnert an Parsifal.
Heiner Müller
Ja, ich wußte das nicht, als ich es geschrieben habe. Das habe ich wirklich im Krankenhaus geschrieben.
Alexander Kluge
So was machst du ja nicht oft, das reimt sich ja alles doppelt. Das ist ja ein ganz strenges Gedicht.
Heiner Müller
Das ist ein Sonett. Ich habe das im Krankenhaus entdeckt, darüber haben wir, glaube ich, gesprochen. Nur strenge Formen helfen gegen Schmerzen, reimlose Gedichte reichen da nicht aus. 
 
Transkript: Der Tod des Seneca
 
...
 

Alexander Kluge
Der André Gide schreibt, daß der Montaigne so gierig war beim Essen, ähnlich wie Henri IV, daß er sich dauernd in den Finger biß - die aßen ja nicht mit Messer und Gabel - oder sich auf die Zunge biß vor lauter Appetit.


Heiner Müller 1968, Photo Roger Melis

Heiner Müller
Nicht Appetit, es ist ein Unterschied, glaube ich... Ich war jetzt in Paris, zum weiß nicht wievielten Mal, weil ich Brigitte zeigen wollte in dieser permanenten Ausstellung im "Pompidou", die Moderne. Es war so furchtbar für mich, das zum dritten Mal zu sehen. Es ist so langweilig, so tot, diese ganze Moderne... Matisse ... Tapetenmuster, und überhaupt, völlig langweilig. Dann kommst du plötzlich in einen Raum. Das ist der Raum von Giacometti. Und plötzlich bist du in einem Tempel. Ich meine das gar nicht "heilig," aber das ist dann plötzlich Kunst. Alles andere kannst du wegwerfen. Da merkt man so deutlich den eigentlichen Schnitt. Picasso war der letzte universelle Künstler, oder der letzte Renaissance-Künstler, wenn du willst. Und der hatte noch Hunger. Danach hatte jeder nur seinen speziellen Appetit. Also der Unterschied zwischen Hunger und Appetit sehr wichtig. Und je schwerer es wird, die Weltbevölkerung zu ernähren, desto mehr nimmt der Hunger in der Kunst ab. Kunst ohne Hunger geht überhaupt nicht. Also Kunst ohne den Anspruch, alles fressen und haben zu wollen, geht gar nicht.


Alexander Kluge
Und wie würdest du Gier formulieren? Was ist Gier?

Heiner Müller 
Gier ist was ganz Positives in der Kunst und eine Voraussetzung für Kunst.
...

http://www.zeit.de/2009/03/L-Mueller 

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