Donnerstag, 2. Januar 2014

Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.


2013 ff. 

Noch gegen Ende des Jahres 2012 sah ich Ödipus Stadt am Deutschen Theater.
In der Fassung von John Düffel, inszeniert von Stephan Kimmig mit Ulrich Matthes, Susanne Wolff, Barbara Schnitzler, Sven Lehmann, Katharina Marie Schubert, Elias Arens, Moritz Grove, Thorsten Hierse, Olivia Gräser. 
Es war das letzte Mal, dass ich Sven Lehmann auf der Bühne erlebte, als zornigen blinden Mann, der Stock so sehr zum Finden des Weges nötig, wie zum Erschlagen der wahrhaft Blinden um ihn herum.
 
In der Kantine des Deutschen ist auf einem Tisch, an seinem Stammplatz eine kleine bronzene Plakette mit seinem Namen eingelassen. Einen Moment lang sah ich dort die vielen anderen Namen, derjenigen, die uns in den letzten Jahren verlassen haben, Schauspieler und Schauspielerinnen, die mein Theaterlieben befeuert und genährt haben. Ein ganzer Tisch in Bronze, Namen, Namen.

Onkel Wanja in Ingolstadt
mit Ulrich Kielhorn, Patricia Coridun, Teresa Trauth, Kathrin Becker, Sascha Römisch, Ralf Lichtenberg, Tobias Hofmann, Karlheinz Habelt in der Regie von Donald Berkenhoff.

Wahrhaft eine Komödie. Oder Tramödie? Sie alle saufen, lieben, reden gegen die Selbstauflösung in der Nutzlosigkeit & Ödnis, gegen das Ergrauen, Ergeben, Ermüden. Wie hier die Gegenwart unauffällig, kriechend in das historische Experiment kroch, war wirklich atemberaubend.
Christoph Nel in Peter Pan von Bob Wilson am Berliner Ensemble.
Warum zittert jemand? Vor Erregung? Aus Lust? Aus Angst? Weil er unter Strom steht oder ihn ein innerer Lachkrampf schüttelt? Vielleicht muß Tinkerbell auch mit ihren unsichtbaren Flügel so schnell flattern, um sich in der Welt zu halten, dass sie dadurch unablässig vibriert. Und dagegen und darüber diese Himmelsstimme. Inkarnation der Gänsehaut.

Die Ausstellung BERLIN-WIEN in der Berlinischen Galerie (noch bis Ende Januar) & Barbara Klemm im Gropiusbau (bis Anfang März) & immer wieder das Pergamonmuseum & die Balkenhol Figuren im CityQuartier DomAquarée (Was für ein pretentiöser Name für eine Einkaufspassage!).
 
Wie das aussehen wird, wenn der An- und Vorbau von Herrn Chipperfield fertig ist? Sicher besser als das Stadtschloßimitat. Es gibt übrigens einen sehr schönen LEGO-Bausatz - Flughafen BER, für die Phantasten unter uns.

Wiederentdeckt, die Gedichte des Polen Zbigniew Herbert (1924-1998)

HERR COGITO UND DER GEDANKENVERKEHR
Gedanken gehn durch den Kopf
meint eine Redensart


die Redensart überschätzt
den Gedankenverkehr


die meisten
stehn reglos
mitten in der öden Landschaft
der grauen Hügel
und dürren Bäume


manchmal erreichen sie noch
den reißenden Fluß der fremden Gedanken
bleiben am Ufer stehn
auf einem Bein
wie hungrige Reiher

erinnern sich traurig
an die versiegten Quellen

drehn sich im Kreise
suchen nach Körnern


sie gehn nicht
denn sie kommen nicht an
sie gehn nicht
denn sie wüßten nicht wohin


sie sitzen am Stein
ringen die Hände

unter dem tiefen
bewölkten
Himmel
des Schädels


Vivaldi Die Vier Jahreszeiten Recomposed von Max Richter, er selbst sagt dazu: "Es ist so, als würde man bei jemandem ins Haus gehen und etwas die Möbel verrücken. Ich wollte herausfinden, welche neuen Formen und Patterns sich mit dem Material entwickeln lassen." Ich verstehe leider nicht genug von Musik um meinen Eindruck in gut beschreibende Worte fassen zu können, kann aber empfehlen und das tue ich. Überraschung!

Eine lustige Seite nicht nur für Berliner: NOTES OF BERLIN - Zettel, Aufkleber, selbstgemachte Poster, gefunden und gepostet, zwischen grob und herzlich, so in etwa wie der Berliner dem Vernehmen nach ist.
 
Und dann: es war der letzte Abend des nun vergangenen Jahres, vor den Parties, zum Jahresabschluss ein Konzertbesuch im Berliner Ensemble, den ich unbedingt hätte unterlassen sollen.
Vier Oktaven waren es einmal, vorgestern waren davon noch ungefähr fünf Töne übrig, mein alter Phoneater, Doktor Wendlandt, wäre wahrscheinlich todesmutig auf die Bühne gesprungen und hätte sie in selbstschützenden Gewahrsam genommen. Nahezu keine Stimme, wenig Interesse an den Brecht-Liedern, die sie zu singen vorgab, und gar keines an den Gästen, die sie eingeladen hatte. Und diese Gäste hätten sehr wohl Interesse verdient.
Was war das, um Gottes willen? 
Um mich herum saßen Menschen, die vor vielen Jahren vielleicht einmal Punks waren oder zumindestens gern gewesen wären und sie wippten mit den Füßen, egal wie unrhythmisch und ohrenverstörend schief auf der Bühne gesungen wurde. Es war, als befände ich mich auf einer surrealen Zeitreise in die Vergangenheit, in der nur gehört wurde, was gehört worden war, damals, als man noch jung war, damals als sie stimmgewaltig die Abwesenheit von Farbfilmen beklagte und in Talkshows die Beglückung durch den G-Punkt vorführte, damals als sie noch eine Sängerin war, damals als sie uns zeigte, was es heißt nichtkonform zu sein.
Ich lese gerade ein Essay von Wayne Koestenbaum "Erniedrigung", eine assoziative Studie warum wir es erschauernd geniessen, wenn Liza Minelli, die Tochter von Judy Garland, trunken und als Schatten ihrer selbst verächtlich über ihre eigene letzte Hochzeit spricht. Talent das sich erniedrigt. Überleben im Angesicht des eigenen Unterganges.
 
Arbeit und Struktur, Wolfgang Herrndorfs Blog über seine Arbeit und sein Leben, geschrieben in Ungewissheit in den Jahren seines Sterbens. Die Texte habe ich gelesen an dem Abend als die Nachricht seines Todes öffentlich wurde, bis zum nächsten Morgen. So schön, so traurig, so klug, so bar aller Sentimentalität, dass es mich fast zerrissen hat. Es geschieht selten, dass ich weine während ich lese.

"2.8. 2013 20:21 
Jeden Abend der gleiche Kampf. Laß mich gehen, nein, laß mich gehen, nein. Laß mich."
Und Nelson Mandela und Dieter Hildebrandt, zu dessen Tode Roger Willemsen den guten Satz schrieb: "Am 20. November starb Dieter Hildebrandt. Das hätte er nicht tun sollen."
Und jetzt auf ins Jahr 2014! TOI TOI TOI!
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 Wolfgang Herrndorf Blog

Die Zeit über Vivaldi Recomposed 

Bug-Magazin über Max Richter 

Live-Mitschnitt 

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