Freitag, 3. Mai 2013

Honoré Daumier im Liebermann-Haus


Honoré Daumier

Ratapoil - Die nackte Ratte

         Ich liebe solche Körperhaltungen, verdreht, überspannt, wenn nachgestellt
         meist schmerzhaft. In Museen erwische ich mich oft beim unbewussten
         Nachbauen. Der "David" in Florenz, ganz Renaissance-Kraft und Grazie, nur
         bricht man sich fast den Arm, wenn man den Ellenbogen des Armes, der die
         Schleuder hält, so eng an die Brust drücken will, wie er es tut. Wie sitzt der
         "Denker"? Nein, nicht mit dem rechten Arm auf dem rechten Knie, sondern
         diagonal auf dem linken und sehr weit vorgebeugt. Ungemütlich, aber, oder 
         besser deshalb, ausdrucksstark.


         Und dieser Herr, die "gehäutete Ratte", Ratapoil, selbstbewusst und hinterhältig,
         frech, elegant, aggressiv. Der Bart eine Waffe, der Hut eine Herausforderung und
         im Notfall hat er den dicken, harten Stock. Ja, er wirkt leicht gebeutelt, aber keines-
         wegs geduckt. Angriffsbereit, angriffswillig in Standbein/Spielbein Position. Eine
         Aaskröte. Ein Hallodri. Ein Mistkerl. Energiegeladen und sicher höchst effizient.


        Wenn Schauspieler solche Haltungen finden, und ich meine wirklich in sich finden,
        nicht einfach nur einnehmen oder nachvollziehen, dann kann Großartiges entstehen.
        Verformte, überhöhte Realität, verfremdete Wahrheit.
        Meine Lieblings-Regieassistentin nannte mich wohl nicht umsonst öfter "Pina Bausch
        für Arme".



Zwischen März 1850 und Dezember 1851 veröffentlicht Daumier in Le Charivari rund dreißig Lithografien von einer Figur, die den „zwielichtigen Beamten, den unermüdlichen Gehilfen der napoleonischen Propaganda” verkörpert. Als überzeugter Republikaner greift Daumier die Propaganda an, die einige Wahlvertreter zu Gunsten Louis-Napoleon Bonapartes übermitteln. Der Prinz-Präsident, der 1848 für vier Jahre an die Spitze der Zweiten Republik gewählt worden war, organisiert derzeit eine Kampagne für sich. Die Gefahr einer Wiederherstellung des Kaiserreichs ist groß.
Die Spitzname Haarige Ratte taucht am 12. August in Le Charivari zum ersten Mal auf. Schon 1875 wird er in den Grand Dictionnaire universel du XIXe siècle aufgenommen: „aus Ratte, Mit, Haar. Umgangssprachlich. Anhänger des Militarismus, insbesondere des napoleonischen Caesarismus”.

Daumier modelliert seine Figur vermutlich im März 1851. Die übertriebenen, unausgewogenen Volumina, die zerbrechlich und kraftvoll zugleich sind, verleihen dem Werk eine subversive Gewalt, die den politischen Machenschaften entspricht.
Den Höhepunkt bildet neben der übersteigerten Wölbung des Rückens, den verknitterten Falten der Hose und des Gehrocks der satanische Gesichtsausdruck der Figur. Die Gesichtszüge von Ratapoil sind zwar keine getreue Karikatur des Prinz-Präsidenten, doch der Schnurrbart im Stile des Kaisers, das Emblem des Feindes, fällt sogleich ins Auge.
Ratapoil, der sich durch seine Moderne auszeichnet, bricht mit den Kategorien der Skulptur um 1850 und kündet schon den Expressionismus an.


Website des

Gesetzlich vorgeschriebene Angaben © Musée d'Orsay 2006

Le Docteur Cherchant Querelle à Ratapoil 1851

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